Andere haben das doch auch hinbekommen! Wenn die das können, dann kann ich das verdammt noch mal auch. Aber im Moment geht gar nichts. Ich sitze auf dem Sand in knietiefem Meerwasser, irgendwo zwischen Strand und Riff in der Nähe von Hurghada im Roten Meer und soll mich von einem Lenkdrachen jetzt aus dem Wasser ziehen lassen. Kiten hatte ich mir leichter vorgestellt. Wie bin ich überhaupt auf diese Schnapsidee gekommen?
Von Harald Zeiss
Ich lasse mein Leben noch mal vor meinem inneren Auge Revue passieren, aber an den bierseeligen Abend irgendwann letzten September kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Egal, jetzt bin ich hier zusammen mit meinem besten Freund, habe ein Brett unter den Füßen und einen Kiteschirm am Himmel und soll jetzt meine ersten Meter auf dem bisschen Wasser möglichst würdevoll zurücklegen. Wie gesagt: andere haben das doch auch geschafft!
Kiteschulen gibt es wie Sand am Meer
Mein Lehrer heißt Momo. In Wirklichkeit Mohamed, aber alle sagen Momo. Klingt wohl mehr nach Sonne, Sand und Spaß. Das verbinden hier alle mit Kiten und wenn man den Könnern zusieht, wie sie mit dem Drachen nicht nur über das Meer fliegen, sondern auch durch die Luft, dann scheint der Trendsport genau den richtigen Nerv unserer aktionverwöhnten Gesellschaft getroffen zu haben. Aber vor dem Flug kommt der Fall, und von denen wird ein Anfänger eine Menge hinlegen müssen. Die gute Nachricht immerhin ist, dass man dabei nur ins Wasser fällt und außer einer ordentlichen Meerwassernasenspülung nicht wirklich viel zu befürchten hat. Wer sich darauf einlässt, kann nach gut acht bis zwölf Stunden seine ersten Meter auf dem Wasser schaffen und hier lest ihr, wie das geht.
Erst überlegen, dann buchen
Der Anfang ist einfach: Flug nach Hurghada buchen, Hotel auswählen und die Vorfreude genießen. Ideal für Anfänger ist das Kitegebiet in der Nähe der Touristenretortenstadt El Guna. Die Auswahl an Hotels ist groß und der sagenhafte Kitestrand mit einem Tuktuk-Taxi in 15 Minuten zu erreichen. Es gibt jedoch vorher ein paar Dinge zu beachten. Zum einen die Windverhältnisse, die über das Jahr hin mehr oder weniger konstant sind. Das hat direkte Auswirkungen auf den Lernfortschritt. Denn ohne Wind fliegt kein Drache und ohne Drachenfliegen lernt man auch kein Kiten.
Wer also unbedingt bis zum Rückflug alles gelernt haben will, muss in der windreichen Zeit von Juni bis September kommen. Zum anderen sollte man sich die Temperaturen von Luft und Meer vorher genau ansehen. Frostbeulen werden die Monate von November bis April meiden, wenn es Nachts und manchmal auch tagsüber empfindlich kalt werden kann. Von den Temperaturen des Roten Meers mal ganz zu schweigen. Immerhin gibt es für alle Anfänger passende Neoprenanzüge, selbstverständlich den Drachen, den Gurt und ein extra großes Bord, auf dem es leichter ist, die Balance zu halten.
Just one more thing!
Für knapp 300 Euro habe ich acht Stunden Anfängerkurs in einer Kiteschule mit Momo gebucht. BASIC 1. Klingt nach wenig Erfolgserlebnis für eine Menge Geld. Das Geld sollte man im Moment am besten bar mitbringen, denn das ägyptische Pfund befindet sich auf Berg- und Talfahrt. Da sinkt die Akzeptanz für Kreditkarten und für die lokale Währung sowieso. Momo ist nicht irgendwer, sondern vor einigen Jahren ägyptischer Kite-Meister gewesen. Das sagt er uns aber erst ganz zum Schluss, vermutlich, um uns nicht vor Ehrfurcht kiteuntauglich zu machen.
Die erste Stunde ist verhältnismäßig harmlos, mit Materialkunde, Sicherheitschecks und ein paar wichtigen Dingen zur physikalischen Besonderheit des Zusammenspiels von Wind und Drachen. Zum Glück sind die Kitedrachen in den letzten Jahren deutlich leichter zu manövrieren geworden und damit auch wesentlich sicherer für Anfänger wie mich. Wenn sozusagen alle Stricke reißen, gibt es eine Sicherheitsschließe, die den Kiter vom Drachen trennt und Letzteren flugunfähig machen. Ein gutes Gefühl, wenn man an dem Ding hängt wie ein Rodeoreiter auf einem wilden Stier.
Aller Anfang ist schwer
Diesen Stier muss ich jetzt entfesseln. Solange der Drache direkt über mir am Himmel steht, fliegt er ohne große Mühe und vor allem ohne starken Zug am Seil, das an meinem Bauchgurt befestigt ist. Alles ganz easy. „Diesen Stier muss ich jetzt entfesseln“Sobald ich aber an den Schnüren rechts oder links mittels einer Querstange ziehe, bewegt er sich entsprechend. Und damit in den Wind. Und zieht. An mir. Und wenn ich nicht aufpasse, schleift er mich auch gleich noch ein paar Meter würdelos über das Meer, solange, bis der Drache ins Wasser fällt. Dann muss ich zum 100. Mal aufstehen, den Drachen wieder zurück in den Zenith „auf 12 Uhr“ bringen und rückwärts gehen, zurück dorthin, von wo ich weggerissen wurde. Das ist dann der so genannte Walk of Shame, den Anfänger absolvieren, bis sie es kapiert haben.
Jetzt stellen wir uns mal ganz dumm
Die besondere Herausforderung beim Kiten liegt in der Komplexität der Bewegungsabläufe, die im Zusammenspiel mit Balance und möglichst stabilem Wind zum Fahrvergnügen führen sollen. Aber beim Kiten sind alle Meister erst mal vom Himmel gefallen und diese Frustrationstoleranz muss jeder Anfänger mitbringen. Momo gibt sich jede erdenkliche Mühe, mich zu instruieren und vor allem zu motivieren. Push, pull, left, right, gently, more power und vieles mehr höre ich in diesen Tagen immer wieder. Wer will, kann das auch auf Deutsch haben. Kitelehrer sind hier keine Mangelware und Sprachtalente scheinen sie alle zu sein. Irgendwann am Nachmittag geht dann aber nichts mehr in den Kopf und die Arme sind gefühlt auch immer länger geworden. Und zum Glück herrscht am nächsten Tag Windstille. Die kann ich wirklich gut gebrauchen!
Zweiter Teil von BASIC 1
Am Tag darauf ist genügend Wind und ich bin wieder im Wasser. Nicht nur der Wind, auch Ebbe und Flut bestimmen den Lernrhythmus. Wenn der Meeresspiegel zu niedrig ist, wird es für die Anfänger zu gefährlich. Ebbe ist um 14 Uhr. Daher müssen wir die verbleibende Zeit noch vor dem Nachmittag nutzen. Während wir beim letzten Mal gemeinsam an einem Kite geübt haben, bekommt heute jeder seinen eigenen Drachen, abgestimmt auf Körpergewicht und Windgeschwindigkeit. Nicht nur meine Unbeholfenheit und ein inzwischen latenter Muskelkater machen mir zu schaffen, sondern auch die unerwarteten Böen, die mal mehr, mal weniger am Kite ziehen, und mir die Kontrolle erschweren. Noch mehr Wasserschlucken und noch mehr Walk of Shame. Aber irgendwas in mir fühlt sich so an, als würde es besser werden. Meint auch Momo, aber ich glaube, der wird für seine gute Laune bezahlt.
Ohne Fleiß, kein Preis
Auf einmal klappt’s! Ich fahre! Ich weiß nicht, ob es die unendlichen Wiederholungen, der Frust, Momos Entschlossenheit oder einfach nur Glück war, dass ich am Ende des zweiten Tages tatsächlich kite. Wenn man 100 Meter Fahrt auf dem Bord also solches bezeichnen kann. Andere haben es geschafft, und ich jetzt endlich auch. Das Glücksgefühl ist sofort da, der Kick, der Spaß, die Gewissheit, dass ich es doch noch geschafft habe. Und diesen Moment muss man sich unbedingt merken. Denn nach ein paar Dutzend Metern holt mich ein Windstoß wieder vom Bord, zurück in die nasse Realität. Ich liege im knietiefen Meer, der Drache auch, aber ich weiß, dass ich das es kann. Ein Anfang ist geschafft. Jetzt heißt es nur noch dranbleiben und üben, üben, üben.
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