Die Oder, Deutschlands fünftlängster Strom, ist anders als Rhein und Elbe für viele noch immer eine Wasserader, mit der sie fremdeln. Vermutlich liegt es daran, dass der deutsch-polnische Grenzfluss fast ein halbes Jahrhundert nicht zugänglich war. Dabei hat die 866 Kilometer lange Wasserader, von der 717 Kilometer schiffbar sind, viel zu bieten: jede Menge Kultur und Geschichte, eine zauberhafte Wasserlandschaft mit vielen Nebenarmen, wo Schwarzstörche und Seeadler zu Hause sind. Ich gehe in Stralsund an Bord und auf Entdeckungstour mit einer Flusskreuzfahrt.
Stralsund – Das Klappern der Hufe von Nora und Mireille auf dem Asphalt der „A20“ von Hiddensee hat etwas fast Einschläferndes. Nur die laute, alles durchdringende Stimme von Kutscher Fredi, der den Planwagen lenkt, reißt uns aus der morgendlichen Lethargie. Um 8 Uhr haben wir die „Katharina von Bora“, die für eine Woche unser schwimmendes Hotel sein wird, verlassen, um die autofreie Insel zu erkunden. 1000 Menschen leben hier, hinzu kommen 4000 Gäste-Betten in der Sommersaison. Die Natur und die endlosen Strände spielen die Hauptrolle. Zu den Hauptsehenswürdigkeiten der Insel gehört das Sommerhaus von Gerhart Hauptmann, der auf dem kleinen Friedhof neben der Kirche begraben liegt. Bis um 10 Uhr die erste Fähre mit Tagesgästen ankommt, herrscht noch himmlische Ruhe, doch da sind wir längst wieder fort.
Begonnen hat unsere achttägige Reise am Vortag in Stralsund, Weltkulturerbe und für seine Altstadt mit norddeutscher Backsteingotik berühmt. Seit das futuristische Ozeaneum 2008 eröffnet hat, kommen jährlich fast eine halbe Million Besucher. Vis-à-vis der 1933 gebauten „Gorch Fock I“ sind wir an Bord der „Katharina von Bora“, die ja eigentlich ein Flusskreuzfahrtschiff ist, gegangen. „Aber wir können auch Meer, zumindest in der flachen Boddenlandschaft bis nach Rügen und im Stettiner Haff“, sagt Kapitän Joachim Schramm (57).
Seit einem Jahr hat er auf der 17 Jahre alten, eleganten Lady das Kommando. Die Ausstattung im Art-Deco-Stil in Restaurant, Salon und Kabine ist hochwertig. Sogar im Bad sind Lampen und Fliesen Art-Deco. Der Geschmack des verstorbenen Reeders Peter Deilmann, der auch das Traumschiff „Deutschland“ bauen ließ, ist unverkennbar. Noch vor dem Konkurs der Deilmann-Reederei wurde die „Katharina von Bora“ verkauft. Zurzeit fährt sie unter Schweizer Flagge für den Veranstalter Nicko Cruises auf Elbe und Oder.
Rügens Kreidefelsen
Das Fischerdorf Lauterbach am Greifwalder Bodden auf Rügen ist unser nächstes Ziel. Als Fürst Wilhelm Malte zu Putbus im 19. Jahrhundert auf Rügen den Bädertourismus einführte, konnte er mit einer derartigen Entwicklung nicht rechnen. Sicherlich hätte er sonst die wundervollen Alleen mit ihren Eichen und Buchen, die sternförmig auf die Residenzstadt Putbus zulaufen, erheblich breiter bauen lassen. Für die Kutschen der vornehmen Gesellschaft waren sie mit ihren Baumkronen auf den Wegen zum Strand die perfekten Schattenspender.
Binz und Sellin mit ihrer Bäderarchitektur haben sich seit der Wende bis auf wenige Bausünden zu wahren Schmuckstücken entwickelt. Die Seebrücke von Sellin ist eine feine Dame in Weiß. Die architektonischen Scheußlichkeiten von Prora am weißen Sandstrand – acht insgesamt 4,5 Kilometer lange Blöcke für 20.000 Urlauber, von Hitlers Kraft durch Freude errichtet – wandeln allmählich ihr Gesicht.
Rügens Kreidefelsen, die bereits im 18. Jahrhundert durch Caspar David Friedrichs Gemälde berühmt wurden, haben sich durch Abbrüche verändert, ziehen jedoch zigtausende Besucher an. Der sagenumwobene Königsstuhl ist mit 118 Metern die höchste Erhebung. Statt Kutschen fahren heute Busse und der „Rasende Roland“, eine fast 100 Jahre alte Dampfschmalspurbahn, verbindet Lauterbach über Putbus und Binz mit Göhren.
Von Lauterbach fahren wir nach Greifswald, das im 13. Jahrhundert rund um das Kloster Eldena von Kaufleuten und Handwerkern gegründet wurde und mit der 1456 gegründeten Universität eine der ältesten Deutschlands besitzt. Der Romantiker Caspar David Friedrich, der dort geboren wurde, hat die Ruine von Eldena ebenso wie die Kreidefelsen von Rügen viele Male in Öl festgehalten.
Usedoms Kaiserbäder
Peenemünde auf Usedom (Usedom = Menschen an der Mündung) ist unser nächstes Ziel. Der erste Blick aus dem Kabinenfenster fällt auf ein U-Boot aus dem Zweiten Weltkrieg, das heute Museum ist. Wie ein Sandwich liegt die Zweiländer-Insel (Deutschland/Polen), auf der es auf deutscher Seite zehn Seebäder und acht Reha-Kliniken gibt, zwischen Ostsee und Peene. An ihrer schmalsten Stelle ist sie nur 300 Meter breit. Seit 1999 hat die gesamte Insel den Status eines Naturparks, weshalb es auch keine Windräder gibt.
In den berühmten Kaiserbädern Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck ist die weiße Bäderarchitektur – vorne eine elegante Mischung aus aller Welt und hinten „egal“ – noch im Original erhalten und liebevoll restauriert worden. Die Apotheke des Meeres aus Aerosol und Sonne hatte schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten die vornehme Gesellschaft nach Usedom gelockt. Nur ging man damals nicht baden, sondern flanieren. „Sehen und gesehen werden“ war das Motto, weshalb die Promenade mit 13 Kilometern auch die längste Europas ist.
Über die Peene geht’s ins Stettiner Haff und in die Oder nach Stettin im polnischen Westpommern. Historisch ist die Stadt hoch interessant, doch optisch wenig ansprechend. Nur mit einem guten Guide wie Bogdan (54) erschließen sich dem touristischen Auge die Sehenswürdigkeiten der ehemals deutschen, im Krieg fast völlig zerstörten City, in der „tausende Häuserfassaden sich seit Jahrzehnten nach einer Maurerkelle sehnen“, wie Bogdan treffend bemerkt. Kirchen und öffentliche Gebäude sind allerdings schön restauriert worden.
Schiffshebewerk Niederfinow
Gemächlich mäandert die „Katharina von“ Bora über Oder und Oder- Havel-Kanal bis zum 76 Jahre alten Schiffshebewerk Niederfinow, das 36 Meter Höhenunterschied überwinden hilft. 150.000 Besucher jährlich lassen sich von diesem Wunderwerk der Technik faszinieren. Direkt nebenan entsteht das neue Schiffshebewerk Niederfinow, 54 Meter hoch und 133 Meter lang, mit dem auch moderne große Motorgüterschiffe ihre Landung Richtung Ostsee bringen können. Von Niederfinow fahren wir über den Oder-Finow-Kanal durch die Mark Brandenburg zur fast mystischen Klosterruine Chorin, ein Beispiel norddeutscher Backsteingotik.
Endstation der Flusskreuzfahrt ist Potsdam, wo die „Katharina von Bora“ nur zehn Gehminuten vom Zentrum entfernt liegt. Früher wohnten in der Residenzstadt von Friedrich dem Großen Ufa-Stars wie Asta Nielsen und Marlene Dietrich, heute Prominente wie Günther Jauch und Wolfgang Joop. Durch Millionen-Spenden reicher Privatleute für Denkmalschutz hat Potsdam relativ schnell zu seinem alten Glanz zurückgefunden. Selbst die Häuser im ehemaligen Sperrgebiet des sowjetischen KGB-Hauptquartiers wurden zu schmucken Einfamilienhäusern umgestaltet – bis auf eins. Mit seinem mausgrauen DDR-Charme soll es auch in Zukunft als Mahnmal an die Vergangenheit erinnern.
Reiseinfos zur Flusskreuzfahrt Oder in Kürze
Das Schiff: Die „Katharina von Bora“ ist 83 Meter lang und 9,5 Meter breit. Sie kann 80 Passagiere aufnehmen. Alle Kabinen sind Außenkabinen und stilvoll eingerichtet. Auf dem Oberdeck sind alle Kabinen mit großen, bis zum Boden reichenden Panoramafenstern zum Öffnen ausgestattet (französischer Balkon). Die Hauptdeck-Kabinen haben nicht zu öffnende Fenster. Tagsüber ist das Sonnendeck ein beliebter Treffpunkt.
Reiseliteratur: „Ostseeküste – Mecklenburg-Vorpommerns“, Claudia Banck, Dumont, 296 S.
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